Mythos Schärfe

Ich kann das Wort “knackscharf” nicht mehr hören. Es geistert durch so gut wie jedes Youtube-Video, in dem eine neue Kamera mit dem hypersupergroßen Sensor vorgestellt wird, der “wertig vergüteten” Optik (“im soliden preislichen Mittelfeld um 2.790 EUR”) und der AI, die sich sogar das Motiv selber sucht.

Weißt Du, wissen Sie, wie Robert Capas Autobiographie heißt? “Slightly out of focus”. Leicht unscharf also. Das bezieht sich im Fall des großen Fotoreporters auf seine legendären Aufnahmen von der Landung der Alliierten in der Normandie. Klar – auf einem Landungsboot bei stürmischer See unter massivem Artilleriebeschuss der Nazis kommt es aufs knackscharfe fokussieren nicht wirklich an.

Generell fällt mir auf: Wenn wir uns “ikonische” Fotografien, meistens analoge Bilder, anschauen, werden wir viele finden, die vor den scharfen Augen (man beachte das subtile Wortspiel) der gegenwärtigen Schärfefanatiker keine Gnade finden würden. Unscharf – blurry – nicht genügend – setzen, und den nächsten online-Kurs bestellen!

Ich habe jetzt wahllos in mein Regal mit Fotobüchern gegriffen und den Band Ara Güler – Fotografien 1950-2005 herausgezogen. Dieser großartige Fotograf, der für Time, Life, Stern, Paris Match und andere legendäre Medien gearbeitet und vor allem großartige Istanbul-Fotos gemacht hat – der hat nicht ausschließlich “knackscharf” geliefert. Da sind genügend Fotos, die berührend und emotional sind, und die sind “slightly out of focus“.

Warum lassen wir uns von den technischen Möglichkeiten deformieren? Warum müssen wir als Fotografen immer die Grenzen des Machbaren ausreizen? Warum sind Stimmungen und Atmosphäre plötzlich weniger wichtig als das Gefühl, das wir (hoffentlich) mit unseren Fotos vermitteln wollen?

Ich habe als Beitragsfoto eines meiner kleinen Fotoexperimente gewählt – zoomen beim Auslösen mit längerer Belichtungszeit. Damit ist allerhand an Effekten möglich. Aber noch spannender sind die “ungewollt” unscharfen Fotos. Und ich spreche hier auch und gerade von Porträts. Ja, die meisten neuen Kameramodell legen den Fokuspunkt genau auf die Augen und – surr – schon hat man das scharfe Foto am Display. Aber ist das wirklich das einzige, das zentrale Ziel, wenn wir fotografieren?

Ich habe in letzter Zeit viele Fotos von meiner heißgeliebten Enkelin gemacht, die “slightly out of focus” sind. Natürlich – ich hätte die Belichtungszeit verkürzen und die ISO-Zahl hochschrauben können. Nur – wenn sich die Kleine bewegt, wenn sie beim Fotografieren plötzlich lächelt und Richtung Kamera greift – macht das ein Bild schlecht? Ich zweifle das an. Man muss sich auch davon lösen zu glauben, dass man für andere fotografiert. Man muss auch den Mut haben, gegen einen Publikumsgeschmack zu fotografieren. Wenn ich ein unscharfes Foto nach ein paar Wochen, Monaten oder Jahren in die Hand nehme und ich spüre immer noch etwas – dann ist das Bild nicht schlecht. Also – mehr Mut zum “nicht perfekten” Foto.

Schreibt mir doch eure Meinung dazu in die Kommentare – bin wirklich gespannt darauf!

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