Piktorialismus – aus Anlass der Ausstellung in der Albertina Modern in Wien

[Entgegen meiner Absicht, einen kurzen Ausstellungsbericht zu schreiben, ist aus dem Text ein längerer Beitrag über Piktorialismus geworden. Wenn Du den Text komfortabel offline lesen möchtest, kannst Du ihn hier als PDF downloaden!]

Meistens wird bei Piktorialismus (auch: Pictoralismus, Piktoralismus) an die großen US-amerikanischen Protagonisten dieser Richtung wie Alfred Stieglitz (1864-1946) oder Edward Steichen (1879-1973) gedacht. Der Piktorialismus war aber eine weltweite Strömung, und er hängt ursächlich mit den Geburtswehen einer neuen, bürgerlichen, Kunst zusammen. Denn im Zentrum stand damals bei den Fotografinnen und Fotografen die Frage: Ist die Fotografie eine Kunst? Wenn ja, wie kann das Produkt des Zusammenwirkens eines physikalisch-optischen Apparats mit der Chemie Kunst hervorbringen? Welchen Anteil hat die Fotografin, der Fotograf an der Entstehung eines fotografischen Kunstwerks?

Seit der beeindruckenden Rede Dominique Francois Aragos (1786-1853) vor der französischen Deputiertenkammer am 3. Juli 1839, in der der Physiker und Abgeordnete die Vorzüge der fotografischen Methode Louis Daguerres (1787-1851) darlegte und damit erreichte, dass der französische Staat der Welt die Fotografie schenkte, war klar, dass hier etwas Neues entstanden war, über dessen Zukunftsperspektiven ebenso angeregte wie hitzige und gar giftige Debatten entflammten. Zentral war auf jeden Fall der demokratische Ansatz in Aragos Rede:

„Der Daguerrotyp verlangt keine Handhabung, die nicht alle ausführen könnten. Er verlangt keine Fähigkeiten im Zeichnen, keine manuelle Geschicklichkeit. Wenn man sich Punkt für Punkt an sehr einfache, wenige Regeln hält, dann dürfte jeder zu den gleichen sicheren und gelungenen Resultaten gelangen wie Daguerre selbst“. 1

Genau dieser demokratische Ansatz – eine (Kultur)Technik, die „voraussetzungslos“ einsetzbar ist – musste geradezu die Frage aufwerfen: Kann man so wirklich Kunst schaffen? Relativ unbestritten war der Wert der Fotografie für die Wissenschaften. Ebenso konnte sich die Fotografie lange als Hilfsinstrument der Malerei halten. Es war effizienter, nach einer Fotografie zu arbeiten als nach einem lebenden Modell, das eventuell unruhig oder bockig war, oder nach einem Abbild einer Landschaft, ohne einen Regenguss oder klamme Finger durch Kälte befürchten zu müssen.

Wie alle demokratischen Errungenschaften in der revolutionären Aufstiegsphase des Bürgertums war aber auch die Fotografie nur theoretisch für „alle Menschen“ zugänglich. Die bloße Tatsache, dass ein Recht auf die Nutzung einer bestimmten Technik besteht (z. B. der Drucktechnik, um Zeitungen herauszugeben, wofür sich der Begriff der „Pressefreiheit“ eingebürgert hat) besagt nicht, dass jeder Mensch oder auch Gruppen von Menschen tatsächlich von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen können, weil ihnen schlichtweg die materiellen Mittel fehlen.

Etwa zur gleichen Zeit, in der sich die Fotografie flächendeckend zu verbreiten begann, analysierte Karl Marx (1818-1883) in seinem Hauptwerk „Das Kapital – zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1867) die kapitalistische Gesellschaft und ihre Bewegungsgesetze. Wesentliches Merkmal des Kapitalismus ist für Marx, dass es sich um die erste Gesellschaftsformation handelt, die auf der generalisierten Warenproduktion beruht. Produziert wird also nicht mehr für den Eigenbedarf2, sondern für den Verkauf. Zugleich werden in der ersten Entwicklungsstufe der Photographie viele der angebotenen „Waren“, also Abzüge, nicht unter kapitalistischen Bedingungen, also durch „Lohnarbeiter“ hergestellt. Die ersten Fotografen begannen bescheiden als Ein-Mann-Betriebe (viel seltener als Ein-Frau-Betriebe), die sich zunächst die „Produktionsmittel“ individuell anschafften, selbst fotografierten und entwickelten (meist in knochenharter Selbstausbeutung) – aber das Wachstum der Nachfrage führte dann zu einer Professionalisierung, in der mit „Handlangern“ und „Helfern“ produziert werden musste.

„1862 setzte allein Disderi 2400 Karten pro Tag ab. Mittlerweile dauerte die Herstellung eines Klischees nur noch wenige Sekunden, und ein Dutzend Porträts kostete nur 20 Francs. In den kleinsten Orten gab es jetzt Photoläden, und Wanderphotographen zogen durch das Land und boten Schnappschüsse zu einem Franc das Stück an.“3

Vor allem das fotografische Porträt bot der neuen herrschenden Klasse die Möglichkeit, bei der Selbstdarstellung der alten, dahinschwindenden Aristokratie Paroli zu bieten. Die Ahnengalerie an den Wänden der Schlösser und adeligen Palais wurde in den Salons des Bürgertums durch ehrfurchterweckende Porträts der kapitalistischen Gründerväter nachgeahmt. Fotografen, die den Geist der Zeit erkannten, konnten selbst den gesellschaftlichen Aufstieg mitvollziehen. Gisèle Freund (1908-2000), die nicht nur selbst eine herausragende Fotografin, sondern auch eine kluge Analytikerin der Fotografie war, schreibt dazu am Beispiel des erfolgreichen französischen Berufskollegen Nadar (1820-1910; eigentlich: Gaspard-Félix Tournachon), der 1852 sein erstes Studio in Paris eröffnete:

„Der Fotograf sah sich verpflichtet, dem Geschmack eines neuen Publikums entgegenzukommen, das sich aus den reichen bürgerlichen Kreisen zusammensetzte.” 4

Dass die moderne Technik auch „Massenfertigung“ beziehungsweise „Fertigung für die Massen“ ermöglichte, zeigte sich beispielhaft in den USA, wo Mathew Brady (1822-1896) während des Bürgerkriegs 1861-1865 tausende billige im „Tintype“-Verfahren produzierte Porträts von Soldaten anfertigte, die diese an ihre Liebsten zu Hause verschicken konnten5. Die „Produktionsmittel“ aber waren nach wie vor teuer und blieben damit einer Minderheit vorbehalten.

Neben den billigen Massenprodukten waren die Porträts für den bürgerlichen Haushalt bewusste Nachahmungen der Ästhetik der klassischen Porträtmalerei. Die Abgelichteten wurden zwischen Gips- oder Kartonsäulen vor aufgemalten südländischen Hintergründen oder Stukkatur-Statuen abgebildet. Dem kamen die immer noch langen Belichtungszeiten entgegen – Porträtierte durften sich oft minutenlang nicht bewegen, daher war das historisierende Dekor eine wunderbare Möglichkeit, Menschen in eine ruhige, z. B. in sitzende oder auf eine Säule gestützte, Haltung zu bringen.

Schon relativ früh begann an einer „Nebenfront“ die Debatte, ob das wirklich alles mit der neuen Kulturtechnik gewesen sein sollte. Es waren „Amateure“, die aus verschiedenen Gründen nicht auf den Verkauf ihrer Bilder angewiesen waren, dafür aber den Anspruch erhoben, die Fotografie zur Kunst zu erheben.

Wie oben angedeutet – Fotografie war ein finanziell und erst recht zeitlich sehr aufwändiger Zeitvertreib und setzte entsprechende Muße voraus, um sich mit den chemischen Grundlagen der „Lichschreiberei“ vertraut zu machen. So gesehen ist der von Astrid Mahler und Monika Faber vertretenen These, dass der österreichische Piktorialismus Ausdruck einer spezifisch „bildungsbürgerlichen“ Einstellung zur Kunst war, zuzustimmen.

Wie lässt sich der Piktorialismus nun tatsächlich auf eine für die internationale Strömung gesamtgültige Formulierung bringen? Sehr algebraisch und daher nützlich scheint mir Mary Warner Mariens Kurzcharakterisierung:

„Just as the Fine Arts had inspired some Victorians to devise High Art photography, turn-of-the-century photographers contrived Pictorialism – that is, a kind of photography that rejected industrialization for evocative, often hand-painted photographic images.“

[So wie die schönen Künste einige Viktorianer zur Entwicklung der High-Art-Fotografie inspiriert hatten, setzten sich die Fotografen der Jahrhundertwende für den Pictorialismus ein – eine Art der Fotografie, die die Industrialisierung ablehnte und stattdessen stimmungsvolle, oft handbemalte fotografische Bilder schuf.] 6

Piktorialistische Fotografien, seien sie von Alfred Stieglitz, Heinrich Kühn (1866-1944), Robert Demachy (1859-1936), Frank Eugene (1865-1935), Léonard Misonne (1870-1943) , Gertrude Kaesebier (1852-1934), Mary Devens (1857-1920), Hans Watzek (1848-1903) … sind auch für „ungeübte“ Betrachterinnen und Betrachter relativ einfach zuordenbar. Sie sind durch eine mehr oder minder ausgeprägte Unschärfe, eine Vielfalt der Tonwerte und die Verwendung von Papieren gekennzeichnet, die von der Struktur an Leinwand oder Lithographie-Papier erinnern. Unschwer sind oft auch manuelle Eingriffe mit dem Pinsel zu erkennen.

Keineswegs findet sich bei den Piktorialistinnen und Piktorialisten aber eine einheitliche Wahl der dargestellten Objekte – für mich einer der Gründe dafür, dass sich ein Teil dieser „Schule“ ab etwa 1910 in eine Richtung der „modernen“ Fotografie entwickeln konnte und andere Exponenten auf einer letztlich konservativen Position verharrten. Aber mehr dazu später.

Einer der grundlegenden Texte zum Verständnis des Piktorialismus ist Robert de la Sizerannes (1866-1932) Aufsatz „Ist die Fotografie eine Kunst“, der sich 1897 an ein breites Laienpublikum richtete. Darin heißt es unter anderem:

„Gewisse Details des fotografischen Bildes zu unterdrücken ist gut, aber damit dieses Bild ein Kunstwerk wird, reicht es nicht, daß bestimmte Fehler unterdrückt werden, sondern es bedarf auch der Existenz einiger Qualitäten. In erster Linie bedarf es der erkennbaren oder ahnbaren Existenz einer menschlichen Hand, nicht einer Maschine. Die Kunst muß hier ‚der Mensch, der Maschine beigegeben‘ sein, um Bacon zu parodieren“.7

Nach de la Sizeranne interveniert der Mensch drei Mal, um eine Fotografie zum Kunstwerk zu machen: er wählt in der Natur das „Objekt“ (also das Motiv) aus; er greift bei der Entwicklung des Negativs und drittens bei der Wahl des Papiers ein. De la Sizeranne ist weit, weit weg vom „Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ – da jeder Abzug von der Hand des Fotografen/der Fotografin gestaltet wird, gibt es keine einfachen „Kopien“, sondern Duplikate die selbst Originale sind.

Ähnliche Gedankengänge finden sich in Variationen in allen Schriften der Piktorialisten, und sie sind für mich der Beweis, dass wir es hier mit einer ganz spezifischen bürgerlichen Kunst bzw. Kunsttheorie zu tun haben.

Dieses Beharren der Piktorialisten auf dem „menschlichen Faktor“ bei der Produktion von Kunst spiegelt auf eine sehr spezielle Weise die Erkenntnis wider, dass der Wert einer Ware durch die in ihr enthaltene menschliche Arbeitskraft bestimmt wird. Zugleich wird aber diese Tatsache in der kapitalistischen Gesellschaft durch den Warenfetischismus verschleiert:

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Eigenschaften ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Eigenschaften der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, … Durch dieseVertauschung der Abhängigkeiten werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge“8.

Im Zentrum der Ausstellung in der Albertina Modern stehen die Arbeiten der österreichischen Piktorialisten, die sich im ziemlich elitären Camera-Club zusammengefunden haben. Das Trifolium (Kleeblatt), eine aus Hugo Henneberg (1863-1918), Heinrich Kühn und Hans Watzek bestehende „Dreierbande“, war das Herzstück des heimischen Piktorialismus, die vom Club herausgegebenen „Wiener photographischen Blätter“ sein Zentralorgan. Hier erschien unter anderem 1897 in Übersetzung der programmatische Text Robert Demachys „Welche Berechtigung haben die Kunstkniffe der modernen Schule?“. Darin heißt es unter anderem:

„Es scheint mir zwar unnöthig, auf den folgenden Punkt Gewicht zu legen, aber wir sind noch nicht zu Ende mit den Einwänden. ‚Das, was Sie uns zeigen, ist keine Photographie mehr,‘ so wiederholt man uns, ‚weil Sie bei dem und dem Verfahren mit dem Pinsel entwickeln, den Tonwert gegen den Horizont abschwächen, die Umrisse verlaufen lassen, sogar den Hintergrund der Porträts ändern; Ihre Photographien, wenn es überhaupt Photographien sind, sind nichts als Retouche und Pantscherei.“ Ich gebe das alles zu. Es ist mir beim Gummi-Pigmentverfahren vorgekommen, dass ich den ganzen schlecht abgestimmten Hintergrund eines Porträts neu gemacht habe. Man hat mich deswegen getadelt, aber kein Mensch hat etwas dagegen gehabt, dass ich mir meine Atelier-Hintergründe selbst mache, anstatt sie zu kaufen. Wo ist da der Unterschied? Einige Pinselstriche auf dem Atelier-Hintergrunde, die gehören in die orthodoxe Photographie, ein Pinselstrich an demselben Hintergrunde, aber auf der Copie im Laboratorium gemacht, und es wird ein Aquarell. Ist da nicht ein schreiender Widerspruch? (…)

Kurz zusammengefasst scheint es mir bewiesen, dass der Photograph Künstler sein kann, und dass er ein Kunstwerk geschaffen haben wird, wenn er die folgenden zwei Bedingungen vereinigt hat: Zunächst einen Vorwurf zu finden oder zu componieren, in dem die Linien und Tonwerte sich zu einem künstlerisch mitwirkenden Ganzen vereinigen, und dann in dem positiven Drucke dem Auge des Beschauers diejenige Linienführung, Bewegung und Beleuchtung aufzudrängen, deren Gegenwart das Kunstwerk ausmacht, und deren Abwesenheit jedes künstlerische Interesse an dem Bilde zunichte macht, und zwar auf solche Weise, dass das Publicum über die Absicht und die Empfindung, die der Autor wiedergeben wollte, nicht im geringsten im Zweifel sein kann“.9

Die ersten „Amateure“ – was durchaus zurecht „Liebhaber“ heißt – hatten einen anderen Zugang zur Fotografie als die professionellen Lichtbildner: Für sie stand der Broterwerb nicht an erster Stelle. Die Mitgliederliste der europäischen Foto-Klubs des ausgehenden 19. Jahrhunderts ließe sich problemlos auch im „Who is who“ des Groß- und Finanzkapitals der damaligen Zeit finden. Daher musste keinem gängigen Massengeschmack gefolgt werden, durch den Bildungsgrad der Mitglieder gab es ein anderes Verständnis davon, was Kunst sei, war auch der ästhetische Geschmack der „Amateure“ anders geprägt.

Das Aufkommen des Impressionismus in der Malerei weckte auch bei Fotografen die Begehrlichkeit, sich und ihre Sicht der Welt in die (künstlerische) Fotografie einzubringen. Mit der Gründung der Wiener Sezession 1897 trat eine selbstbewusste neue Generation bildender Künstler an die Öffentlichkeit, die den offiziellen konservativen, am Historismus orientierten Kunstbegriff ihrer Kollegen vom Wiener Künstlerhaus ablehnten. Im gleichnamigen Ausstellungsgebäude stellten sie erstmals impressionistische Malerei aus Frankreich vor, gleichzeitig aber boten sie dem Expressionismus der „Jungen“ ein öffentliches Forum.

Wenn für uns heute die aquarellähnlichen Gummidrucke staunenswert sind, weil sie tatsächlich oft nicht sofort als Fotografien erkennbar sind – was ihnen ein antiquiertes Flair verleiht – , waren sie für ihre Zeitgenossen ebenso revolutionär wie, sagen wir, die Gemälde Cézannes oder Van Goghs. Der Piktorialismus brach vor allem in der Porträtmalerei mit dem Historismus der professionellen Studiofotografie und wandte sich teilweise extrem großformatigen Landschaftsbildern und Stillleben zu.

Sehr treffend charakterisierte der leider weitgehend in Vergessenheit geratene russische Kulturtheoretiker Alexander Konstantinowitsch Woronski (1884-1937) in einem Aufsatz 1928 den künstlerischen Zeitgeist des fin de siécle folgendermaßen:

Wie auch immer, die dominierende Richtung in der Kunst — der Literatur, der Malerei, der Musik — war der Individualismus und zwar in seinen extremsten Formen: Kult des schrankenlosen ‚Ichs‘, Nietzscheanertum, Mystizismus, Pessimismus. Dem entsprachen auch die damaligen Schulen: Impressionismus, Dekadenz, Symbolismus, Futurismus usw. Bei all ihren Besonderheiten, bei all ihren Vorzügen und Mängeln hatten sie doch eines gemein: Sie ersetzten die Wirklichkeit, die Natur, die Menschen und Dinge durch ihre Eindrücke von diesen. Sie isolierten diese Eindrücke gleichsam von der Welt, verliehen ihnen einen unabhängigen, eigenständigen Wert und vergaßen dabei, dass diese Eindrücke nur insoweit wichtig, nützlich und notwendig sind, wie sie den Menschen mit dem Leben verbinden, wie sie uns die Welt vermitteln. Dadurch beraubten sich die individualistischen Künstler ihres einzigen Nährbodens. Sie befanden sich in der Lage eines halluzinierenden Menschen, dessen Sinneswahrnehmungen nur ganz entfernt und in verzerrter Form an die Realität erinnern. Ihre Eindrücke, Bilder und Vorstellungen kreisten in einer gewissen Leere, in einem dunklen Nichts. Deshalb sahen die einen außerhalb ihres Gesichtskreises nur Chaos, Abgründe und Katastrophen, die anderen begannen ein ‚anderes Sein‘, ‚andere Welten‘ oder Gott zu suchen; die dritten propagierten einen philosophischen und ästhetischen Relativismus und Empirismus (Machismus); die vierten verkündeten die höchsten Rechte des einzigen und einzigartigen Ichs; die fünften gaben die Losung aus ‚Carpe diem — nutze den Tag!‘; die sechsten wagten zu sagen: ‚Es gibt keinen Ausweg mehr — das einzig Zuverlässige im Leben ist der Tod.‘ All das besagte, dass man die Welt verlor, wenn man statt der Welt die eigenen Eindrücke sanktionierte. Statt der Welt sahen diese Künstler nur sich selbst, sie entwickelten große Aktivitäten in ihren individualistischen, subjektiven kleinen Welten, kreisten nur um diese, richteten auf sie ihre ganze Aufmerksamkeit und stellten nur sie in ihren Werken dar“10.

Die entscheidende Schwäche der Piktorialisten lag aber weder in den Experimenten mit Unschärfe und Retusche; sie lag auch nicht in der Kritik an der alltäglichen „Konsumfotografie“ der beruflichen Porträtmaler. Sie lag darin, die Fotografie nicht als etwas Eigenständiges, von der Malerei unabhängiges, zu sehen. Allerdings waren sie damit nicht allein – diese Erkenntnis musste sich erst durchsetzen.

Die Pioniere der Fotografie wie Nicéphore Niépce (1764-1833) oder Louis Jacques Mandé Daguerre hatten von der Fotografie niemals als einer neuen Kunstgattung gesprochen. Für sie war die Fixierung der Ergebnisse des „Lichtschreibens“, also das Haltbar machen des Abbildes, in erster Linie ein wissenschaftlicher Fortschritt, der sich in die allgemeine Verbreiterung des menschlichen Wissens in der Epoche des aufsteigenden revolutionären Kapitalismus einfügte11.

Was fehlte war ein Verständnis dafür, dass „die Fotografie“ selbst keine Kunst war, sondern ein Instrument, mit dem sich Kunst schaffen ließ. Dass dieses neue Instrument auch neue Ausdrucksformen hervorbringen konnte und musste, war kein Konsens unter den Fotografinnen und Fotografen. Wie auch? Ein zweidimensionales Abbild realer Gegenstände (inklusive von Menschen) war ja nichts Unbekanntes, das kannte man ja schon von der Malerei her. Was Staunen machte, war die Schärfe des Lichtbilds, die Detailtreue der Abbilder. Was also war naheliegender als sich an der bereits vorhandenen und bewährten Ästhetik der Malerei zu orientieren? Das damit der Verdrängungsstreit zwischen Malerei und Fotografie erst richtig angeheizt wurde, lag auf der Hand. Einen sehr schönen Denkansatz, wie dieser Streit beigelegt werden kann, finden wir bei Berthold Beiler:

„Kamera und Pinsel stehen nicht in Konkurrenz miteinander, denn beide sind Instrumente zur Darstellung visueller Erlebnisse unter jeweils anderem Aspekt. Wir sollten uns deshalb daran gewöhnen, das Verhältnis von Fotografie und bildender Kunst als ein Nebeneinander und Miteinander im System der visuellen Kommunikation anzusehen, als eine Arbeitsteilung, bei der es weder eine Hierarchie noch ein gegenseitiges Sich-Verdrängen gibt“12

Unter den Amateuren gab es unterschiedliche Richtungen, die Piktorialisten waren nicht die einzige. Sie alle hatten einen gemeinsam kleinsten Nenner – das Maximum aus der Fotografie herauszuholen. Während die Piktorialisten noch in allen Ländern daran arbeiteten, mit den Mitteln der Fotografie der Malerei möglichst nahe zu kommen, entwickelte sich neben und teilweise in ihren Zirkeln schon eine Gegenbewegung.

Zu deren wichtigsten Vertretern zählte Paul Strand (1890-1976), der sich lange im Umkreis von Alfred Stieglitz bewegt und dem dieser 1916 die letzten beiden Ausgaben seiner einflussreichen Zeitschrift „Camera Work“ gewidmet hatte. In einem unprätentiösen Text legte Strand 1917 dar, was seit Jahren unter dem Begriff „straight photography“ diskutiert wurde.

„Die Fotografie, der einzige bedeutende Beitrag der Wissenschaft zu den Künsten, findet ihre Legitimation, wie alle Medien, in der vollkommenen Einzigartigkeit ihrer Mittel. In diesem Fall heißt das: absolute und unbestimmte Objektivität. Während die anderen Künste in dieser Beziehung wirklich antifotografisch sind, macht diese Objektivität den wahren Wesensgrund der Fotografie aus, ihre spezifische Leistung und gleichzeitig ihre Beschränkung. Und genauso wie die Mehrheit der Künstler, die sich anderer Medien bedienen, die inneren Qualitäten ihrer Mittel verkannt haben, so haben die Fotografien, zwei, drei vielleicht ausgenommen, keine Konzeption der fotografischen Mittel gehabt. Die volle Wirkungsweise jedes Mediums hängt davon ab, wie rein es angewandt wird, und alle Versuche, zu mischen, enden in so toten Dingen wie Farbdruck, Foto-Malerei, Gummidruck, Öldruck etc., wo die Einführung von Handarbeit und Manipulation nur das hilflose Verlangen ausdrückt, zu malen. Dieser große Mangel an Einsicht und Respekt vor dem Material auf Seiten der Fotografen bewirkt den Mangel an Aufmerksamkeit beim intelligenten Publikum und erzeugt die Meinung, die Fotografie sei eine schlechte Entschuldigung für die Unfähigkeit, in einem anderen Medium zu arbeiten.“13

Ohne den Begriff zu verwenden, spricht sich Strand, der selbst sehr intensiv mit verschiedenen Druckverfahren der Piktorialisten experimentiert hat, für die „straight photography“ aus. Heute würden wir vielleicht sagen – für „out of the cam“.

Aufgabe des Fotografen ist es also, die Grenzen und die Möglichkeiten seines Mediums zu sehen, denn Ehrlichkeit ist nicht weniger als Intensität der Wahrnehmung eine zwingende Voraussetzung, um einen lebendigen Ausdruck zu erzielen. Das verlangt eine wirkliche Ehrfurcht vor dem Objekt, das vor einem steht und das sich in Hell-Dunkel-Kontrasten ausdrückt — Farbe und Fotografie haben nichts miteinander gemein —, mittels einer unendlich feinen Skala von Tonstufen, die über das Nachahmungsvermögen der menschlichen Hand hinausgeht. Die bestmögliche Realisation dieser Vorgabe erreicht man ohne Tricks und Manipulation, durch die Anwendung direkter fotografischer Methoden. Bei dieser Anordnung der Objektivität kommt die Weltanschauung des Fotografen ins Spiel. In dem Augenblick, bevor das Bild entsteht, erweist sich eine formale Konzeption, aus dem Gefühl oder aus dem Intellekt oder aus beiden geboren, als ebenso notwendig wie in dem Moment, bevor der Maler den Pinsel an die Leinwand führt. […]

Daß ein Medium existiert, rechtfertigt es vollkommen, wenn es überhaupt eine Rechtfertigung braucht, wie so viele glauben. Jeder Vergleich der Möglichkeiten verschiedener Medien ist nutzlos und irrelevant. Ob ein Aquarell weniger wert ist als ein Ölbild oder ob eine Zeichnung oder eine Radierung einer Fotografie vorzuziehen sind, hat keine Bedeutung. Wenn man etwas verachten muß, um etwas anderes zu respektieren, dann ist das ein Zeichen von Impotenz. Laßt uns lieber freudig und dankbar alle Mittel begrüßen, die dem menschlichen Geist zu einer volleren und intensiveren Selbstverwirklichung verhelfen.14

Vereinfacht kann man sagen: am 28. Juli 1914 begann der endgültige Abschied vom Piktorialismus. Der eskapistische Ästhetizismus einer Schicht von begüterten Amateuren konnte dem Donnern der Kanonen des Weltkriegs nicht standhalten.

Am schnellsten vollzogen Fotografen wie der Kreis um Stieglitz und Steichen diese Abwendung. Sie hatten allerdings auch den Vorteil, bereits in der Blütephase ihrer piktorialistischen Arbeit neben Landschaften und Stillleben städtische Szenen festgehalten zu haben. Dieser „Modernismus“ fehlt bei den österreichischen und vielen der europäischen Piktorialisten. Auch die Stadtansichten Misonnes sind für mich kein Gegenbeweis. Sie sollen auch nicht kleingeredet werden – aber sie strahlen nicht die brodelnden Widersprüche der urbanen Gesellschaft aus (die es auch in Belgien gab), eher eine Betulichkeit wie die Abbildungen auf Adventkalendern.

Neben der technischen Seite gibt es meinem Verständnis nach im Piktorialismus auch eine Form-Inhalt-Dialektik. Der Versuch, durch „künstlerische Nachbearbeitung“ eine an die Malerei anknüpfende Ästhetik zu schaffen, begünstigte die Natur- und Stilllebenfotografie. Dort, wo Menschen in der Natur zu sehen waren, erschienen sie meistens als deren „Anhängsel“. Sie spazierten durch Wald und Flur, Frauen und Mädchen wurden in der Landschaftsmalerei, wenn überhaupt in einem Arbeitszusammenhang , als Wäscherinnen oder Mägde dargestellt. Ein realistischer Blick auf die ländliche (und erst recht städtische) Arbeitswelt fehlte.

Das Werk des auch in der Albertina Modern stark vertretenen Heinrich Kühn ist in diesem Zusammenhang vermutlich exemplarisch – er blieb seinen piktorialistischen Überzeugungen Zeit seines Lebens treu. Da es bekanntlich auch ein Leben neben der Fotografie gibt, muss man aber auch Kühns Weltbild berücksichtigen, wenn man seinen ästhetischen Konservativismus konstatiert. Politisch machte der seit den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts aus seiner Ablehnung der Sozialdemokratie ebensowenig ein Hehl wie aus seinem Deutschnationalismus. Das sich seine Themenwahl – der weichgezeichnete Blick auf das alpine Österreich und ländliche Idyllen – hervorragend in die künstlerischen Wertvorstellungen des Austrofaschismus einfügte (Kühn war Mitglied der Vaterländischen Front) und seine kulturpolitische Ablehnung jedes Modernismus den Beitritt zur NSDAP 1938 begünstigte, scheint mir evident zu sein.

An einer Zeitenwende entstand mit dem Piktorialismus eine internationale Bewegung, die mit all ihren Widersprüchen ein lebendiger Beitrag zur Entwicklung der Fotografie war. Dort, wo sich seine Anhängerinnen und Anhänger gegenüber den sozialen, künstlerischen und technischen Neuerungen nicht verschlossen, brachte er wesentliche Impulse praktischer und theoretischer Natur mit sich. Das ist auch in der Albertina Modern gut zu sehen, wo der Übergang zum „Neuen Sehen“ an einigen Beispielen gezeigt wird. Für meinen Geschmack hätte man das aber etwas deutlicher herausarbeiten können.

Die gesellschaftlichen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg brachten uns der eingangs erwähnten Demokratisierung der Fotografie in vielerlei Hinsicht näher. Die technische Entwicklung machte die Kameras kleiner, sie wurden durch Massenherstellung billiger, mit der Durchsetzung des Rollfilms wurde das schnelle und bewegliche Fotografieren möglich. Damit verbreiterte sich das Spektrum der fotografischen Möglichkeiten, Experimente wurden einfacher und leistbarer. Im digitalen Zeitalter scheint es einen leichten backlash zu geben. Die „Instagram“- und Social-Media-Ästhetik interpretiere ich durchaus als eine Rückkehr des Piktorialismus mit anderen Mitteln. Damit wird sich aber ein eigener Blogbeitrag beschäftigen.

Kurt Lhotzky

Literaturhinweis:

Wertvoll bei der Beschäftigung mit diesem Thema war für mich die „Theorie der Fotografie“ in einem Band (enthält die Bände I-IV von 1839-1995) von Wolfgang Kemp und Hubertus v. Amelunxen, erschienen bei Schirmer/Mosel. In diesem Jahr wird der V. Band erscheinen, der den Zeitraum 1996-2020 abdecken wird. Herausgeber dieses Fortsetzungsbandes ist Peter Geimer.

Wer die spannenden Diskussionen rund um die Fotografie anhand von Originaltexten nachvollziehen will, wird an dieser Anthologie nicht vorbeikommen. Erfreulich finde ich, dass die Herausgeber durchaus mit Witz an die „heiligen Texte“ herangehen – das erhöht das Lesevergnügen ganz beträchtlich!

1Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen, Hrsg., Theorie der Fotografie I – IV: 1839 – 1995, Erw. Neuaufl. (München: Schirmer/Mosel, 2014), 53.

2Ausnahmen wie z. B. die Hausarbeit im Kapitalismus sind kein Bruch mit dieser Erkenntnis. Wir erleben vielmehr permanent, wie der Kapitalismus versucht, sich auch diese Sphären zu unterwerfen, wie etwa durch Fertiggerichte, Lieferdienste etc.

3Antoine Prost, Hrsg., Geschichte des privaten Lebens. 5: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart / hrsg. von Antoine Prost und Gérard Vincent. Dt. von Holger Fliessbach – 2000 (Augsburg: Weltbild Verlag, 2000), 432.

4Gisèle Freund, Dietrich Leube, und Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft, 31.-33. Tsd, rororo rororo-Sachbuch 17265 (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997), 49.

5Mary Warner Marien, Photography: A Cultural History, Fifth edition (London: Laurence King Publishing, 2021), 106.

6Marien, 163.

7Kemp und Amelunxen, Theorie der Fotografie I – IV, 213.

8Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. 23: Das Kapital, Bd. 1, 23. Aufl (Berlin: Dietz, 2008), 86.

9Demachy, Robert, „Welche Berechtigung haben die Kunstkniffe der modernen Schule?“, Wiener Photographische Blätter, Nr. 1897/1 (1897): 3ff, https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=wpb&datum=1897&page=9&size=45&qid=V1ZXOQJL1UGSSGEKTAZ8S2A7GIOYAR.

10Aleksandr Konstantinovič Voronskij, Ingeborg Schröder, und Aleksandr Konstantinovič Voronskij, Die Kunst, die Welt zu sehen: ausgewählte Schriften 1911 – 1936 (Essen: Arbeiterpresse-Verl, 2003), 399.

11Michel Ellenberger und Jean-Louis Marignier, „Nicéphore Niépce und die Erfindung der Photographie“, Spektrum der Wissenschaft, 1. Februar 1997, https://www.spektrum.de/magazin/nicephore-niepce-und-die-erfindung-der-photographie/823649.

12Berthold Beiler, Weltanschauung der Fotografie: Beitr. zu e. marxist. Aesthetik d. Fotografie, Marxistische Ästhetik und Kulturpolitik (Muenchen: Damnitz, 1977), 82.

13Kemp und Amelunxen, Theorie der Fotografie I – IV, Bd II/S. 59f.

14Kemp und Amelunxen, Bd. II/S. 59f.

Beitragsbild: Franz Kaiser, Zwei Mädchen in einer Blumenwiese – mit freundlicher Genehmigung der Albertina Modern

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