Wer „Rückkehr nach Reims“ verschlungen oder das „Ende von Eddy“ gelesen hat, wird „Die Wurzeln des Zorns“ ganz besonders zu schätzen wissen. Wem die ersten beiden Bücher zu kopflastig oder zu thematisch zu speziell waren, sollte das bemerkenswerte Buch von Vincent Jarousseau als gute Alternative zur Hand nehmen. Es ist eine Mischung aus Sozial- und Fotoreportage und Graphic Novel

Am Beispiel der nordfranzösischen Industriestadt Denain zeigt der Autor, was die Absiedlung eine Industrie für eine Gemeinde bedeutet, in der die Menschen seit Generationen mit dieser verflochten waren. Es ist zugleich ein brillanter Einblick in das Leben derjenigen, die vom derzeitigen französischen Staatspräsidenten Macron als Faulenzer und Minderleister abgekanzelt werden.

Als 1978 der Generaldirektor von Usinor die Einstellung der Eisen- und Stahlherstellung in Denan verkündet, bedeutet das mit einem Schlag den Verlust von mehr als 5.000 der vorhandenen 6.790 Arbeitsplätze. Trotz Protesten, Großdemonstrationen von anderen Stahlarbeitern aus ganz Frankreich und nationaler Gewerkschaftsmobilisierungen lässt sich die Schließung nicht verhindern.

Usinor und seine Vorläuferunternehmen hatten nicht nur Werkswohnungen, sondern einen Versammlungssaal, Kinos und sogar eine Kirche errichtet. Denain war eine typische „Fabriksstadt“, wie man sie sonst eher aus den USA kennt. Diese Infrastruktur brach binnen kurzem zusammen.

Hatten die Stahlarbeiter und ihre Familien vorher voll Stolz erzählen können, dass sie Denain niemals verlassen mussten, weil es ja „bei ihnen“ alles gäbe, waren sie jetzt plötzlich isoliert. Eine schlechte Verkehrsanbindung mit öffentlichen Transportmitteln an die nächstgelegenen größeren Orte machte das Auspendeln schwierig. Immer mehr junge Leute aus Denainl konnten aufgrund der prekären Existenz ihre Eltern, die auf „Arbeitslosengeld“ oder freiwillige Sozialunterstützungen angewiesen waren, keinen Führerschein mehr machen, nicht in andere Städte gehen, um dort Schuhen oder Lehrstellen zu suchen – eine soziale Katastrophe.

Vincent Jarousseau war für eine Reportage nach Denain gekommen – geblieben ist er zwei Jahren, gewohnt hat er bei Einheimischen. Berührende Einzelporträtsd lassen das Schicksal von Menschen lebendig werden, deren Existenzen dem Profit eines Großkonzerns geopfert wurden. Und die jetzt auch noch vom Staat und seinen Repräsentanten verhöhnt werden. Das ist ein idealer Nährboden für die Sozialdemagogie des Rassemblement Nationale (Ex-FN). Kein Wunder auch, dass etliche Denainois an den Gelbwestenprotesten teilgenommen haben.

Trotz alledem aber ist der Mut vieler Junger ungebrochen – sie versuchen zu härtesten Bedingungen etwas aus ihrem Leben zu machen. Ein Buch, das man jenen unter die Nase reiben sollte, die von „Sozialschmarotzertum“ (egal wo) schwafeln.

Kurt Lhotzky

Vincent Jarousseau

Die Wurzeln des Zorns

Blessing, 166 Seiten, 20,60 EUR

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