Mit großer Betroffenheit nehme ich Abschied von Martin Parr — dem scharfsinnigen, verspielten und unnachgiebigen Chronisten des Alltags, der uns mit blitzlichtgesättigten Farben und schonungsloser Ehrlichkeit gezeigt hat, was im Gewöhnlichen steckt. Er ist am 6. Dezember 2025 im Alter von 73 Jahren in seinem Haus in Bristol gestorben.
Ich erinnere mich gut daran, wie ich ihm im vergangenen Jahr beim Fotofestival Baden La Gacilly endlich persönlich begegnet bin. Im Rahmen der Eröffnung des Festivals überreichten ihm Lois und Silvia Lammerhuber als Auszeichnung für sein Lebenswerk eine verkleinerte goldene Statue der Skulptur des Fotografen vor der Römertherme. Martin Parr brachte seine Frau mit auf die Bühne — eine Geste, die ich in all ihrer Zärtlichkeit berührend fand. Sein Humor, sein scharfer Blick auf die Absurditäten des Alltags, wurden von manchen Kritiker*innen als unbarmherzig, ja sogar zynisch empfunden. Ein Urteil, das weder dem Werk noch dem Menschen gerecht wird.

Martin Parr hat die Fotografie verändert. Mit Serien wie The Last Resort (1986) brach er radikal mit romantisierender Schwarz-Weiß-Dokumentation und legte stattdessen einen knalligen, unverblümten Blick auf britischen Alltag, Klassenstrukturen und Massentourismus vor. Seine Bilder waren Satire, Gesellschaftsreportage und anthropologisches Dokument zugleich — scharf, liebevoll, irritierend.
Er war nicht nur Fotograf, sondern auch Sammler und Bewahrer: Mit der Martin Parr Foundation hat er einen institutionellen Raum geschaffen, in dem alltägliche Bilder, Fotobücher und visuelle Alltagskultur ein Zuhause bekommen — ein großes Archiv menschlicher Lebenswirklichkeit.
Martin Parr hat uns vor Augen geführt, wie Klassen- und Konsumgesellschaft, Freizeitindustrie und Massenkultur den Alltag formen — häufig banal, absurd, manchmal grotesk. Seine Bilder hielten unserer Gesellschaft den Spiegel vor.
Er hinterlässt eine Fotografie, die weit mehr ist als Ästhetik: eine Fotografie der sozialen Wirklichkeit, der Widersprüche und der Menschen — ungeschminkt, direkt, voller Ironie und Empathie. So, wie sich die Welt heute darstellt, wird uns Martin Parrs Blick durch den Sucher und sein Druck auf den Auslöser im „entscheidenden Augenblick“ fehlen. Seine Bilder aber werden noch lange zu uns sprechen.
Kurt Lhotzky (Text und Fotos)


