
Brent Stirton, ME/CFS und die Kraft des engagierten Bildes
Es gibt Bilder, die schreien nicht – sie flüstern. Und gerade dadurch dringen sie tiefer unter die Haut als jede plakative Schlagzeile. Der südafrikanische Fotograf Brent Stirton, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem World Press Photo Award, hat sich in seinem jüngsten Projekt einem der am meisten missachteten medizinischen Skandale unserer Zeit gewidmet: ME/CFS.
Myalgische Enzephalomyelitis, oft verkürzt zu “chronischem Erschöpfungssyndrom”, ist keine Modekrankheit, kein psychosomatischer Nebel, wie es allzu lange von einem Teil der medizinischen Zunft bagatellisiert wurde – sondern eine ernsthafte, potenziell lebenszerstörende neuroimmunologische Erkrankung, die weltweit Millionen betrifft. Und doch: Unsichtbar in den Medien, kaum erforscht, mit Stigma überzogen.

Genau hier setzt Stirtons Arbeit an. Seine Porträts von Betroffenen – in ihren Wohnungen, in der Dunkelheit ihrer Zimmer, oft liegend, von der Welt abgeschnitten – haben nichts Voyeuristisches. Sie sind zurückhaltend, würdevoll, und gerade deshalb politisch. Denn sie machen sichtbar, was so lange versteckt blieb.
Die Präsentation dieser Serie im Rahmen des Fotofestivals La Gacilly-Baden ist nicht zufällig. Festivalleiter Lois Lammerhuber, selbst Fotograf und Verleger, war nicht nur Wegbereiter, sondern Mentor dieses Projekts, dessen Entstehung über Monate hinweg von seiner Sensibilität und seinem Engagement für ethische Fotografie begleitet wurde. Lammerhuber ist kein Mann des Spektakels, sondern des “aktiven Hinsehens” – und in einer Zeit, in der das Wort „Empathie“ oft zur leeren Phrase verkommt, ist das mehr als ein kuratorisches Statement. Es ist eine Haltung.
Fotografie als gesellschaftliche Intervention – damals wie heute
Brent Stirton steht damit in einer langen, kämpferischen Tradition der Fotografie – einer Tradition, die weit zurückreicht, bis zu Jacob Riis, dem dänisch-amerikanischen Polizeireporter und Fotografen, der 1890 mit How the Other Half Lives die Slums von New York City dokumentierte. Seine Blitzlichtaufnahmen der engen, stickigen Kellerwohnungen lösten eine Welle von Reformen aus, die nicht nur die Wohnverhältnisse verbesserten, sondern auch die Verbreitung von Typhus und Tuberkulose eindämmten. Fotografie als Waffe – gegen Armut, gegen Krankheit, gegen soziale Kälte.

In Baden selbst ist ein weiteres Beispiel präsent: Dieter Bornemann, der vor einigen Jahren mit seiner Fotoserie über Depression nicht nur Betroffene sichtbar machte, sondern die lähmende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen infrage stellte (über das Projekt “Aufgegessen”, das Bornemann gemeinsam mit seiner Frau realisiert hat und das in diesem Jahr in Baden präsentiert wurde, folgt ein gesonderter Bericht!).
Und nicht zu vergessen: der französische Fotograf Olivier Jobard-Giboux, der mit seiner Arbeit im Auftrag von Rotary International den weltweiten Kampf gegen Polio dokumentierte. Seine Reportagen aus Afrika und Asien zeigen, wie Fotografie ein Bewusstsein schaffen kann – nicht als sentimentaler Appell, sondern als Aufruf zum Handeln.
Gegen das Vergessen – gegen das Verdrängen
In einer Zeit, in der pseudowissenschaftliche Schwurbler auf Telegram ihre kruden Theorien verbreiten, in der Wissenschaftsfeindlichkeit nicht nur geduldet, sondern politisch instrumentalisiert wird – ist Stirtons Arbeit eine notwendige Gegenbewegung. Denn ME/CFS ist nicht “nur” ein medizinisches Thema. Es ist ein sozialer Skandal, ein strukturelles Versagen.
Und es ist kein Zufall, dass es vor allem Frauen betrifft – und ausgerechnet deshalb lange als “hysterisch” abgetan wurde. Die Fotografie hat hier keine Heilung zu bieten – aber sie kann Verantwortung einfordern.

On good days, which are rare, Carmen can take a bath with the help of her mother. If possible, she writes to her friends or talks about her condition on social media. Both are very difficult. Carmen has a deep awareness that the majority of ME/CFS sufferers are young and female. “The decades of neglect and the persistent lack of care and recognition can be attributed to this fact, among other things,” Carmen once wrote on the X platform (formerly Twitter). She is a political person – and a staunch feminist. The thesis from her X post, that supposed “women’s diseases” are less well researched and treated, has long been proven. Carmen also receives no financial support from the state. She and her mother know how ruthless the application process often is – with almost no chance of home visits by doctors carrying out assessments. “I can’t do that to her unless I really have to,” says Carmen’s mother Erika. The daughter’s isolation also leads to the mother’s isolation. “My life is all about work, shopping and looking after Carmen,” says Erika.
Bilder, die bleiben
La Gacilly-Baden zeigt in diesem Jahr viele sehenswerte Arbeiten. Aber Brent Stirtons Beitrag ragt heraus, weil er mit der Kamera nicht nur beobachtet, sondern Partei ergreift – für jene, die keine Lobby haben. In einer Gesellschaft, die immer mehr von Aufmerksamkeitsökonomie bestimmt ist, ist dieses Projekt ein leuchtendes Beispiel für eine andere Art von Bild – eine, die nicht konsumiert werden will, sondern zum Innehalten zwingt.
Das ist die wahre Kraft der Fotografie. Und genau dafür braucht es Festivals wie dieses.
Kurt Lhotzky
Das Fotofestival La Gacilly Baden arbeitet eng mit der we@me-Stiftung zusammen, die sich neben der Aufklärung über die Krankheit auch die Hilfe bei der Finanzierung zur Erforschung der Krankheit ME/CFS und die Schaffung eines entsprechenden Bewusstseins bei den politischen Institutionen zur Aufgabe gemacht hat.