Interview mit Vreni Hockenjos: “… dass es sehr wohl ganz wunderbare Kinderbücher gibt …”

Vreni Hockenjos ist Film- und Medienwissenschaftlerin. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Geschichte und Entwicklung des Fotobuchs. Sie promovierte an der Universität Stockholm über die Interaktion zwischen Literatur und visuellen Medien um 1900 (Picturing Dissolving Views, 2007). Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema, unter anderem in Fotogeschichte, PhotoResearcher und Sammelbänden. Sie arbeitet in der REFLEKTOR-Gruppe mit und moderiert und kuratiert Ausstellungen und Veranstaltungen rund um das Thema Fotografie.

Kurt Lhotzky (K.L.): Vom 2.-5. November 2023 hat die 10. Photobook Week Aarhus (PWA) stattgefunden. Kannst Du ein bisschen was zu dieser mittlerweile schon traditionsreichen Veranstaltung erzählen?

Vreni Hockenjos (V.H).: Die Photobook Week im dänischen Aarhus ist klein aber fein. Ich war jetzt das zweite Mal dabei und es ist sehr persönlich gehalten, weil die meisten Besucherinnen und Besucher sich das ganze Programm anschauen, so dass auch viel Zeit für Austausch untereinander bleibt. Was ich darüber hinaus besonders an dem Festival schätze ist, wie variiert die Ausstellungen und Talks sind, da gibt es viel zu entdecken, von dem ich davor keine Ahnung hatte, wie etwa Fotoromane aus Afrika! Neben spannenden neuen Künstlerinnen und Künstlern ist Aarhus außerdem eines der wenigen Festivals, die auch auf die Geschichte des Fotobuchs schauen.

K.L : Du hast dort mit Thomas Wiegand den Schwerpunkt „For Kids Only?! Exploring Photobooks for Children“ für die PWA und das Herning Museum of Contemporary Art kuratiert. Wie kam es dazu?

V.H.: Ich hatte mich schon seit einigen Jahren mit Kinderbüchern über Fotografie auseinandergesetzt und Moritz Neumüller, der Chefkurator von der Photobook Week, fragte mich dann, ob ich gemeinsam mit Thomas Wiegand eine Ausstellung über Fotobücher für Kinder machen wolle. Thomas Wiegand hat ja eine große Sammlung Fotobücher, nicht nur Kinderbücher, aber seitdem er vor ein paar Jahren in Kassel an einer Ausstellung über Bullermax (1964) – ein tolles Fotobuch aus der DDR von Edith Rimkus – mitgewirkt hatte, hat er sich auch verstärkt der Kinderbuchthematik gewidmet. Das hat sehr gut geklappt, dieses nicht gerade kleine und ja doch sehr wenig erforschte Thema gemeinsam in einer Ausstellung anzugehen.

Vreni Hockenjos bei der Präsentation der Kinderbuchausstellung im Herning Museum of Contemporary Art

K.L : Zumindest in Österreich haben Fotobücher für Kinder – und ich denke da nicht an Ratgeber à la „Mein erstes Selfie“ – eine erstaunlich geringe Rolle gespielt. Ich kann mich auch an hitzige Kontroversen in den 80er Jahren erinnern, ob Erstlingsbilderbücher mit Fotos überhaupt pädagogisch empfehlenswert seien. War das eine „regionale Besonderheit“ oder ein generelles Diskussionsthema?

V.H.: Ich denke, dass diese Diskussionen nicht nur auf Österreich begrenzt waren. Klar, wenn man heute in einen Buchladen geht – egal wo: die allermeisten Bilderbücher sind mit Zeichnungen versehen – die wenigsten mit Fotos, und wenn Fotos, dann auch eher ziemlich „langweilig“ im Sachbuchbereich. Warum sich Fotos nie so richtig durchgesetzt haben, ist eine sehr gute Frage, auf die ich selbst gerne eine Antwort wüsste! Was wir immerhin in der Ausstellung aufzeigen konnten ist, dass es sehr wohl ganz wunderbare Kinderbücher gibt, die mit Fotos illustriert sind, und das schon sicher seit den 1930er Jahren, wenn nicht schon früher. Und Fotos sind auch gar nicht nur im Sachbuchbereich vertreten, sondern wurden ganz unterschiedlich und durchaus kreativ eingesetzt. Was jetzt Erstlingsbilderbücher betrifft, ist es schon faszinierend, dass es da bis heute relativ viele gibt, die mit Fotografien arbeiten. Eines der vielleicht berühmtesten Fotobücher für Kinder ist ja genau so ein Buch für Kleinkinder: My First Picture Book (1930) von Mary und Edward Steichen. Edward Steichen war zu der Zeit bereits ein renommierter Fotograf, seine Tochter Mary interessierte sich sehr für moderne Reformpädagogik und so war sie es, die an ihren Vater mit der Idee herangetreten ist, 24 Fotos aus einem typischen Alltag von Kleinkindern zu fotografieren. Mary Steichen entschied sich damals bewusst für Fotografien, da diese dem Kind ein „objektiveres“ Bild von einem Gegenstand vermitteln könnten als Zeichnungen, die ja von einem Zeichner „subjektiv“ verzerrt seien. Da wurde also genau andersherum argumentiert als dann in den 80er Jahren!

Aus: “My first picture book” (1930)

Ich persönlich kann nicht sehen, dass das eine oder das andere pädagogisch sinnvoller wäre, es kommt darauf an, wie es gemacht ist, also dass ein Bild einen klaren Aufbau und klare Farben hat, nicht überlastet ist.

K.L : Wir sind ja meistens sehr auf das fokussiert, was wir kennen. Ein bisschen unter dem Wahrnehmungsradar liegen nach wie vor die ehemalige DDR und die osteuropäischen Länder. Wie hat es dort ausgesehen?

V.H.: Damit hat sich Thomas Wiegand intensiv für die Ausstellung auseinandergesetzt und ich habe viel von ihm lernen dürfen. Gerade in den 1950er und 60er Jahren wurden in den ehemaligen Ostblockstaaten sehr viele und sehr schöne fotografisch illustrierte Kinderbücher hergestellt. Das war eine ziemliche Blütezeit, was nicht zuletzt auch daran lag, dass die Produktion dieser Bücher ausdrücklich gutgeheißen wurde von Staatsseite aus. Die Bücher wurden nämlich häufig in den Westen exportiert, um so an dringend benötigte ausländische Devisen zu kommen. Einige Bücher wurden sogar zuerst auf Deutsch, also für den Export, produziert und erst später in die eigene Landessprache übersetzt. So geschehen etwa mit dem ganz wunderbaren tschechischen Kinderbuch Vom lügenhaften Hündchen (1962) von Jan Lukas und Emanuel Frynta. 

Das lügenhafte Hündchen, deutsche Ausgabe 1962
Das lügenhafte Hündchen, tschechische Ausgabe von 1964

K.L : International scheinen ja einige Projekte zu laufen, die sich mit Fotobüchern für Kinder medienhistorisch und medientheoretisch auseinandersetzen

V.H.: Richtig. Da ist in den letzten ein, zwei Jahren viel in Bewegung gekommen. Lange Zeit hat man sich ja in der Fotobuchforschung so gut wie gar nicht für Kinderbücher interessiert. Aber mittlerweile wurden doch einige Forschungssymposien abgehalten, vor allen Dingen aus der Kinderliteraturforschung kommen wichtige neue Impulse. So erschien etwa gerade erst von Laurence Le Guen – allerdings auf französisch – eine erste Anthologie, in der sie auf eine Auswahl an Fotobüchern für Kinder aus den letzten 150 Jahren eingeht. Le Guen ist es auch, die zum gleichen Thema eine Ausstellung im Maison Doisneau kuratiert hat, die jetzt im Frühjahr eröffnet wird. Überhaupt ist Frankreich sehr aktiv, was Forschung zu Fotobüchern für Kinder betrifft. So leitet etwa auch Anne Lacoste vom Institut pour la photographie in Lille ein größeres internationales Forschungsprojekt, auf das ich sehr gespannt bin.

K.L : Wie ist Deiner Meinung nach der derzeitige Stand – ist das Fotobilderbuch im Aufwärtstrend oder immer noch ein Nischenprodukt? Und – wo ortest Du Defizite im Angebot?

V.H.: Also, dass die Fotografie irgendwann mal mit gezeichneten Bildern im Kinderbuch gleichzieht oder diese sogar übertrumpfen wird, wage ich zu bezweifeln! Muss sie natürlich auch nicht. Allerdings glaube ich sehr wohl, dass sich das Interesse an fotografischen Illustrationen in Kinderbüchern in jüngster Zeit verstärkt hat. Bezeichnend ist zum Beispiel, dass die wichtigste Messe für Kinderbücher, in Bologna, seit letztem Jahr bei ihrer Preisverleihung eine neue Kategorie für Fotografie geschaffen hat. Auch hat einer der wohl renommiertesten deutschen Fotobuchverlage – Steidl – seit einiger Zeit eine eigene Sparte für Kinder unter „Little Steidl“ laufen. Das, was mich freut, ist, dass Fotografie gerade nicht mehr nur rein dokumentarisch daherkommt, sondern sehr unterschiedlich und kreativ, etwa in der Form von Collagen, dass sie also vermehrt als künstlerische Wahl eingesetzt wird.

Am mangelndem Interesse scheitert das Fotobuch für Kinder sicher nicht

Was Defizite betrifft, da schließt sich jetzt vielleicht so ein bisschen der Kreis, denn ich habe ja eigentlich überhaupt angefangen, mich für Fotobücher für Kinder zu interessieren, weil ich auf der Suche nach einem guten Kinderbuch über Fotografie war. Es gibt zwar jede Menge praktische Ratgeber für Kinder – also wie mache ich bessere Fotos oder auch, was für coole Projekte kann ich mithilfe von Fotos machen. Aber es gibt kein einziges – zumindest kenne ich keines – in dem die Geschichte der Fotografie für Kinder aufbereitet wird, und zwar auf eine lustige, ansprechende Art, so wie es viele tolle Kinderbücher über Kunst und Kunstgeschichte tun. Deswegen hatte ich mich dann auch vor einiger Zeit entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und genau so ein Buch, das ich mir für meine Tochter wünschen würde, zu schreiben. Jetzt muss sich halt nur noch ein Verlag finden, also bitte Daumen drücken!  

Zu den verwendeten Fotos:

Das Beitragsbild zeigt Vreni Hockenjos mit einem Buch der Wiener Fotografin Christine Werner, das kein Kinderbuch ist. Creative Commons License: Kurt Lhotzky

Die Fotos aus “My first picture book” und “Das lügenhafte Hündchen” sowie aus Herning: Copyright Thomas Wiegand

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