
La Gacilly Baden zählt zu den inspirierendsten Fotofestivals Europas – und das zu Recht. Hier trifft Weltklasse-Fotografie auf packendes Storytelling: Internationale Größen der “concerned photography” zeigen Arbeiten, die nicht nur ästhetisch überzeugen, sondern auch wachrütteln. Als langjähriger Beobachter auf complexityinaframe.com kann ich sagen: Nirgends sonst gelingt die Verbindung von künstlerischer Brillanz und gesellschaftlicher Relevanz so mühelos wie hier. Ein Muss für alle, die Fotografie als kraftvolles Medium unserer Zeit begreifen. Die Begegnung der Werke von Alfred Seiland und Joel Meyerowitz bei der diesjährigen Fot-Ausstellung ist ein ganz besonderer Leckerbissen.
Alfred Seilands East Coast to West Coast ist mehr als eine fotografische Reisedokumentation – es ist eine zeitlose Erkundung der USA zwischen 1979 und 1999, geprägt von Neugier, Sensibilität und technischer Meisterschaft. Der österreichische Fotograf, 1952 in Leoben geboren, fing als Autodidakt in den späten 1960ern an, entwickelte aber schnell eine eigene Handschrift: Ab Mitte der 1970er-Jahre arbeitete er ausschließlich in Farbe, und 1979 stieg er auf die analoge Großbildkamera um – ein Format, das ihm jene Tiefe und Präzision verlieh, die seine Bilder bis heute auszeichnen.

Ein transatlantischer Dialog: Seiland trifft Meyerowitz
Was die Ausstellung in Baden so faszinierend macht, ist die Gegenüberstellung mit Joel Meyerowitz (1938, Bronx), einem der prägenden Köpfe der Street Photography und Pionier der Farbfotografie. Beide verbindet eine ähnliche Herangehensweise: Sie erkunden Alltagsszenen mit einem Blick für das Ungewöhnliche, das Flüchtige, das Poetische im scheinbar Banalen. Ob verlassene Tankstellen, schillernde Neonlichter oder weite Highways – ihre Bilder erzählen von einem Amerika, das zugleich vertraut und rätselhaft ist.
Obwohl sich die beiden auf ihren Reisen mehrfach begegneten und sich gegenseitig schätzen, wurden ihre Werke nie gemeinsam ausgestellt. Umso reizvoller ist dieser „Paarlauf“ in Baden: Ein Europäer und ein Amerikaner, beide mit analytischem Blick, aber unterschiedlichen kulturellen Prägungen, deuten dieselbe Landschaft – und doch entstehen eigenständige, unverwechselbare Werke.

Alfred_Seiland_USA © Alfred Seiland
Die Kunst des Unspektakulären: Seilands Blick auf vergessene Orte
Wie die Deutsche Börse Photography Foundation hervorhebt, liegt Seilands Stärke in der „subtilen Beobachtung des Alltäglichen“. Seine Aufnahmen wirken auf den ersten Blick unspektakulär, offenbaren aber bei näherer Betrachtung eine tiefe narrative Schicht. Die Serie East Coast – West Coast zeigt nicht die ikonischen Postkartenmotive der USA, sondern fängt stattdessen die Stimmung an Raststätten, Motels und verlassenen Straßen ein – eine Ästhetik, die später auch seine FAZ-Kampagnen prägte.
Das Lomography-Magazin beschreibt seine Arbeitsweise als „still, aber eindringlich“. Seiland fotografiert Orte, die viele übersehen würden, und verleiht ihnen durch Komposition und Farbgebung eine fast malerische Qualität. Seine Bilder sind keine Schnappschüsse, sondern durchdachte Kompositionen, die oft eine gewisse Melancholie oder surreale Stille ausstrahlen.
Von der FAZ-Kampagne zum Imperium Romanum: Seilands künstlerische Evolution
Seilands Ruf als einer der bedeutendsten Fotografen unserer Zeit gründet nicht nur auf seinen USA-Bildern. Seine Arbeiten für die FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ (1995–2001) zeigen sein Gespür für prägnante Visualisierungen, während sein Langzeitprojekt Imperium Romanum (seit 2006) die Spuren antiker Monumente in der Gegenwart einfängt – ein Werk von archäologischer Schärfe und ästhetischer Wucht.
Spannend Seilands Bericht in Baden zu den Hintergründen der FAZ-Kampagne, die sich für ihn zu einem Langzeitprojekt entwickelte. Als bekannt wurde, dass die renommierte deutsche Zeitung eine international ausgerichtete PR-Inititative starten wollte, bewarb sich kein geringerer als Helmut Newton um den Auftrag – und das mit einem ausgesprochenen „Dumping-Preis“. Das Assignement ging aber dann doch an den wesentlich „teureren“ Österreicher, der schon etliche Beiträge zum FAZ-Magazin beigesteuert hatte.

Die Deutsche Börse Photography Foundation betont, dass Seiland „die Grenzen zwischen dokumentarischer und künstlerischer Fotografie bewusst verwischt“. Internationale Museen wie das MoMA New York oder die Albertina Wien haben seine Arbeiten gesammelt, Festivals wie Les Rencontres d’Arles feierten ihn. Von 1997 bis 2019 prägte er als Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart eine neue Generation von Fotografen.
Fazit: Zwei Meister, eine Vision
Die Begegnung zwischen Seiland und Meyerowitz in Baden ist eine seltene Gelegenheit, fotografische Interpretation in Reinform zu erleben: Zwei Künstler, eine Inspirationsquelle, und doch völlig eigenständige Perspektiven. Wer verstehen will, wie Fotografie Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern deutet, sollte diese Ausstellung nicht verpassen.
Weiterführend:
- Seilands Monografie East Coast – West Coast (1986)
- Joel Meyerowitz‘ Wild Flowers oder Aftermath für eine Gegenüberstellung
- Imperium Romanum (Hatje Cantz, 2018) für Seilands jüngstes Großprojekt
- Deutsche Börse Photography Foundation: Alfred Seiland
- Lomography: Unseen and Understated Locations